Orgasmus
Der Orgasmus (lat. Climax) ist der Höhepunkt der Lustempfindung beim Geschlechtsverkehr, beim Masturbieren oder bei anderen sexuellen Handlungen. Dabei steigert sich die Durchblutung der Geschlechtsorgane auf ein Höchstmaß und es kommt zu unwillkürlichen Muskelkontraktionen im Bereich der weiblichen oder männlichen Genitalien. Anschließend kommt es meist zu einer Entspannung des Genitalbereichs, oft auch des gesamten Körpers. Beim Mann geht der Orgasmus in der Regel mit der Ejakulation einher.
Der erotische Höhepunkt in Literatur, Kunst und Kultur
- Die folgende Beschreibung des Orgasmus stammt von Felix Roubaud (1855):
- Beim Orgasmus beschleunigt sich der Blutkreislauf ... Die blutunterlaufenen Augen werden trüb ... Die Atmung geht bei den einen keuchend und stoßweise, bei den anderen setzt sie aus ... Die gestauten Nervenzentren übermitteln nur noch unklare Empfindungen und Willenimpulse ... Die Gliedmaßen, von konvulsivischen Zuckungen und mitunter Krämpfen erfasst, bewegen sich nach allen Richtungen oder erschlaffen und werden hart wie Eisen; die aufeinander gepressten Kiefer lassen die Zähne knirschen, und manche Menschen erleben das erotische Delirium so stark, dass sie den Genossen ihrer Wollust vergessen und eine unvorsichtigerweise dargebotene Schulter bis aufs Blut beißen.
(Zitiert nach Philippe Ariès und Georges Duby: Geschichte des privaten Lebens, Frankfurt 1989, Band 5, S. 310.)
- Eine französische Umschreibung für den Orgasmus ist "la petite mort", der kleine Tod.
- "Tief durchbebe das Weib im innersten Marke die Wollust, Und es erfreue den Mann gleiches Entzücken mit ihr." (Ovid)
Evolutionärer Hintergrund und anthropologische Theorien
Es ist ungeklärt, wann und warum das mit dem Geschlechtsakt verbundene Glücksgefühl entstanden ist. Sicher ist nur, dass es ein im wesentlichen zentral-nervöser Vorgang bzw. eine Folge von bestimmten Gehirnleistungen ist. Daher kann man den Orgasmus aus biologischer Sicht deutlich von der Ejakulation, der Fortpflanzung, dem Eisprung und anderen körperlichen Veränderungen unterscheiden.
Orgasmus als Fortpflanzungsförderung in der Tierwelt
Ob ein sexueller Höhepunkt bei Tieren stattfindet, lässt nicht eindeutig beantworten, weil es schwierig ist einen tierischen Orgasmus zu beobachten und nachzuweisen. Bei Weibchen der Katzenartigen, die üblicherweise keine Fressfeinde haben, löst ein Reflex während der Begattung den Eisprung aus, sie reagieren auf diesen Vorgang oft lautstark. Auch bei Primaten wurden Vorgänge beobachtet, die auf einen Orgasmus hinweisen. Das Sexualzentrum von Primaten mit dem orgastischen Reflex befindet sich in den phylogenetisch älteren Teilen des Zentralnervensystems und ist bei allen höheren Säugetieren in ähnlicher Form vorhanden.
Orgasmus als Fortpflanzungsförderung bei Menschen
Das Auslösen eines Eisprungs durch den Orgasmus könnte die Phänomene der „Kriegsurlaubskinder“ und „Katastrophenkinder“ erklären, die auffallend gehäuft neun Monate nach Front- und Heimaturlauben geboren werden, obwohl nicht alle Frauen zur Zeit der Zeugung in der Eisprung- oder Befruchtungsphase sind und manche sogar ihre Menstruation haben. Ähnliches wurde auch nach lebensbedrohlichen Ereignissen wie Naturkatastrophen, Terroranschlägen, Unfällen oder nahe gehenden Todesfällen berichtet. Der weibliche Organismus könnte mit einem „Notfallreproduktionsprogramm“ in Zeiten eingeschränkter oder bedrohter Fortpflanzungsmöglichkeiten biologisch darauf programmiert sein, die Befruchtung besonders zu begünstigen und zu unterstützen. Ein ähnliches Phänomen sind „Wechseljahreskinder“, die in der Menopause der Frau gezeugt und geboren werden. Es wird vermutet, dass die Verbindung des Stresshormons Noradrenalin mit dem beim Orgasmus ausgeschütteten Sexualhormon Oxytocin diese Erscheinungen begünstigt.
DNA-selektive Funktionen des Orgasmus
Manche Frauen können mehreren Orgasmen in Folge, so genannte „multiple Orgasmen“ erleben. Über diese Erscheinungsform gibt es anthropologische Erklärungsversuche, die von der Annahme ausgehen, dass sich frühmenschliche Weibchen von mehreren Männchen in rascher Folge begatten ließen, wobei nur die Männchen mit dem fruchtbarsten Sperma die Fortpflanzung erreichten. Eine britische Studie scheint diese These zu bestätigen: Es wurde beobachtet und dokumentiert, wie sich die Samenfäden verschiedener Männer gegenseitig vernichteten.
Gegen eine solche Auslegung spricht die Homogenität des äußeren Aufbaus von Spermien bei verschiedenen Individuen und Arten. Wäre ein Konkurrenzkampf der Spermien für den Fortbestand der jeweiligen Art von Vorteil, hätten sich dafür im Laufe der Evolution vermutlich spezialisierte Organe oder molekularbiologische Vorgänge entwickelt. Ebenfalls gegen die Entwicklung eines Mechanismus, der die Kontamination mit fremdem Erbgut verhindert, spricht die selbst bei vorwiegend monogamen Arten gelegentlich vorkommende Fremdbefruchtung. Hierdurch werden Vielfalt und Anpassungsfähigkeit der Organismen gefördert. Gelegentliches "Fremdgehen" wird daher selektiv bevorteilt. Zu oben genannter Studie wären deshalb weitreichendere Untersuchungen sowie vergleichende Studien bei Tieren interessant.
Naheliegender als obige Auslegung der Studie ist die Annahme, dass die gegenseitige Zerstörung der Spermien lediglich die Folge einer irrtümlich eingeleiteten Befruchtungsreaktion war. Während der Maiglöckchenduft der weiblichen Ovarien, dem das Spermium auf dem Weg zur Befruchtung offenbar folgt, speziell als eine Eigenschaft verstanden werden kann, die der pheromonialen Fernerkundung dient, kommen hingegen im Nahbereich verstärkt andere Selektionskriterien für die angestrebte Gametenfusion zum Tragen. Das zerstörerische Phänomen könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Kontakt der Gameten mit einem fremden haploiden Genom ausreicht, um die Befruchtungsreaktion auszulösen.
Partnerschafts-selektive Funktionen des Orgasmus
Anthropologen sehen in der längeren Vorlaufzeit des Orgasmus von Frauen ein wichtiges Selektionskriterium: indem sich der Mann um die sexuelle Befriedigung der Frau bemühe und seine eigene vorerst zurückstelle, zeige er wertvolle Eigenschaften wie Empathie, Leistungsbereitschaft und Geduld, die von wesentlicher Bedeutung für eine stabile Partnerschaft und eine erfolgreiche Aufzucht des Nachwuchses waren und sind.
Die verschiedenen Stimulationsmöglichkeiten, mit denen sich ein Orgasmus bei Menschen erreichen lässt, und die damit verbundenen Möglichkeiten, den Höhepunkt zu erleben, ihn sogar zu gestalten, fordern zudem eine weitere wichtige typisch menschliche Eigenschaft heraus: die Kreativität. Sie ermöglicht den Menschen vielfältige und intensivierte orgastische Erlebnismöglichkeiten, die eine partnerschaftliche Bindung fördern, weil sie Vertrauen und Empathie voraussetzen und verstärken. Zusätzlich unterstützt wird dies durch eine mit dem positiven Erleben verbundene psychologische Prägung auf den Partner. Aus evolutionsbiologischer Sicht ist der Orgasmus daher als Teil einer entwicklungsrelevanten Auslese, mit der die Kreativität als eine kognitive und empathische Leistung schon früh mit der Partnerbindung belohnt wurde, was wiederholten Geschlechtsverkehr und die genetische Fortpflanzung begünstigte.
Andererseits ermöglicht die Kreativität beim Erlangen von sexuellen Höhepunkten die Loslösung vom bloßen Akt der genetischen Reproduktion und eröffnet andere, nicht ursächlich der Fortpflanzung dienende Sexualpraktiken und alternative Formen der Partnerschaft, z. B. gleichgeschlechtliche Beziehungen.
Evolutionsbiologische Argumente
Evolutionsbiologen erforschen die stammesgeschichtlichen Ursachen des Handelns. Sie unterscheiden zwischen proximaten und ultimaten Ursachen von Verhalten.
Evolutionsbiologen führen stammesgeschichtliche Neuerwerbungen oft darauf zurück, dass sie den Überlebenswert und die Reproduktionsrate der betreffenden Art erhöhen. Im Falle des Orgasmus sei es der Steigerung der Reproduktionsrate förderlich, wenn Mann und Frau sexuelle Interaktionen wegen der damit verbundenenen äußerst angenehmen Gefühlszustände häufig und gern wiederholten. Die Argumentation der Evolutionsbiologen stimmt also mit der Anschauung überein, dass Sex um seiner selbst willen praktiziert werde. Gleichwohl argumentieren sie, dass es über Jahrtausende durch Selektion zu dieser Veränderung gekommen sei und dass es sich um genetisch beeinflusste Verhaltens- und Erlebnisweisen handle.
Die Orgasmusfähigkeit von Mann und Frau trägt aus stammesgeschichtlicher Sicht wesentlich zur Arterhaltung bei, weil in einer gefestigten Partnerschaft der Nachwuchs besser versorgt und der Geschlechtsverkehr relativ umstandlos herbeigeführt werden konnte (vergl. Partnerschafts-selektive Funktionen des Orgasmus).
Dieser evolutionsbiologischen Argumentationskette folgend interpretieren Sexualwissenschaftler die verschiedenen Formen homosexueller Beziehungen als Folgen der Partnerbindung, die sich von der starren Festlegung auf gegengeschlechtliche Partner gelöst habe.
Humanbiologische Aspekte
Nach Masters und Johnson stellt der Orgasmus die dritte von vier Phasen des von ihnen benannten sexuellen Reaktionszyklus dar. Diese Einteilung fand in den 60er Jahren statt und ist bis heute aktuell.
Orgasmus des Mannes
Die Zahl von Orgasmen, die ein gesunder Mensch erleben kann, ist unbegrenzt. Der speziell auf die Ejakulation bezogene Spruch „Nach 1.000 Schuss ist Schluss“ ist Unsinn; Sperma wird normalerweise ab der Pubertät ein Leben lang gebildet. Eine regelmäßige sexuelle Befriedigung ist beim Mann aus medizinischer Sicht für die Vorbeugung von Prostatabeschwerden sinnvoll. Die Ejakulation von befruchtungsfähigem Sperma ist keine Voraussetzung für den Orgasmus, was bei einer Sterilisation von Belang ist. Die Spermien sind ein ausschließlich unter Laborbedingungen messbarer und subjektiv nicht feststellbarer Mengenanteil des Ejakulats, der sich individuell und je nach Situation erheblich unterscheiden kann.
Orgasmus der Frau
Auch bei Frauen kann es während des Orgasmus zur Ejakulation kommen. Dabei sondert die Frau ein klares Sekret aus dem G-Punkt-Drüsenzentrum ab, dem wegen besonderer Eigenschaften für die Befruchtung besondere Bedeutungen zugeschrieben werden: wenn das männliche Ejakulat zu dickflüssig oder zu wenig ist und die Beweglichkeit der Spermien dadurch eingeschränkt ist, kann das weibliche Ejakulat diese hinderlichen Faktoren ausgleichen. Zudem hat es einen günstigen Einfluss auf das Basen-Säuren-Verhältnis in der Vagina: die Vaginalflora hat normalerweise einen sauren pH-Wert, Spermien aber brauchen eine leicht alkalische Umgebung. Das weibliche Ejakulat erhöht für eine kurze Zeit den pH-Wert in der Vagina, und ermöglicht so dass die Spermien während der befruchtungsfähigen Phase der Frau unbeschadet in die Gebärmutter gelangen können. Unterstützend wirken zudem mit dem Orgasmus einhergehende Muskelkontraktionen, die den Gebärmuttermund rhythmisch und mit peristaltischen Bewegungen in die Samenflüssigkeit eintauchen.
Immunologische Aspekte
Für das weibliche Immunsystem ist es nicht selbstverständlich, einen Embryo, der zur Hälfte aus fremden Genen besteht, im eigenen Körper zu dulden. Im Extremfall verhindert eine Immunreaktion die Befruchtung, in seltenen Fällen kann eine immunologische Inkompatibilität der Gene Unfruchtbarkeit verursachen. Auch im Vorfeld der Fortpflanzung kann es zu weiblichen Immunreaktionen gegen Teile von männlichen Sexualsekreten kommen. Forscher haben herausgefunden, dass bestimmte Sexualpraktiken helfen können, die für eine Befruchtung notwendige Immuntoleranz der Frau aufzubauen (vergl. untenstehenden Weblink).
== Orgasmusähnliche Zustände ==
Es wird berichtet dass ein Orgasmusgefühl auch ohne sexuelle Betätigung in geistigen oder körperlichen Extremsituationen auftreten kann, z. B. bei exzessivem Beten (siehe Märtyrer) oder Hungern, extremer körperlicher Betätigung (Leistungssport), körperlichem Schmerz (S/M-Praktiken) oder bei Gewalterlebnissen als Opfer oder als Täter. Mitglieder von Fliegerstaffeln im Zweiten Weltkrieg erlebten bei Bombenabwürfen orgasmusähnliche Gefühle.
Diese Phänomene können mit der plötzlichen Ausschüttung von körpereigenen Endorphinen, die das neuroendokrine System des Zwischenhirns freisetzt, erklärt werden. Manche Forscher erklären damit auch die aus Literatur und Boulevardpresse bekannten Nahtoderlebnisse, wobei Menschen im Angesicht einer tödlichen Gefahr oder auf der Schwelle zum Tod kurz aus ihrem Körper getreten oder in ein helles glücksbringendes Licht eingetaucht seien.
Wissenschaftliche Forschungen und Erkenntnisse im Verlauf der Zeiten
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts
Menschen haben individuelle Vorlieben hinsichtlich der sexuellen Stimulation und können auf verschiedene Weisen Orgasmen erleben. Da die Scheidenwand fast keine Nerven aufweist, kommen viele Frauen nur dann zum Orgasmus, wenn bestimmte Lustzentren, z. B. die Klitoris, der G-Punkt, der A-Punkt oder andere, stimuliert werden. Religiös motivierte und prüde Moralvorstellungen tabuisierten im Lauf der Geschichte oft die Sexualität und besonders den weiblichen Orgasmus, deswegen nahmen viele Laien, Wissenschaftler und Ärzte an, dass Frauen grundsätzlich nicht orgasmusfähig seien (vergl. Kapitel Der Orgasmus und Rollenklischees). Bis ins 20. Jahrhundert war der weibliche Orgasmus unter Forschern der westlichen Hemisphäre offiziell unbekannt.
Ab dem 15. Jahrhundert war die manuelle Auslösung des Orgasmus bei Frauen, einer so genannten Hysterischen Krise (griechisch hystera: Gebärmutter), gängige ärztliche Behandlungsmethode bei hysterischen Beschwerden wie nervösen Kopfschmerzen und „allgemeiner Unleidlichkeit“.
Im 19. Jahrhundert starb diese Behandlungsmethode nach und nach aus, weil spezielle Geräte für die häusliche Selbstbehandlung aufkamen: Vibratoren, die heute in zahlreichen Varianten als Sexspielzeug dienen.
Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
Veränderte Moralansprüche, die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, der schwindende Einfluss der Kirchen und bessere wissenschaftliche Untersuchungs- und Forschungsmethoden haben es den Forschern ermöglicht, teilweise Licht in das Dunkel um den Orgasmus zu bringen:
In den 50er Jahren entdeckte der Gynäkologe Ernst Gräfenberg ein Lustzentrum der Frau, den nach ihm benannten G-Punkt.
Wenig später veröffentlichte der Zoologe und Sexualforscher Alfred Charles Kinsey die Kinsey-Berichte, in denen er anonymisierte Antworten von Amerikanern über ihre Sexualpraktiken auswertete.
Masters und Johnson untersuchten in den 1960er Jahren den menschlichen sexuellen Reaktionszyklus und den dabei ablaufenden Orgasmus aus wissenschaftlicher Sicht. Dabei sollten die Versuchspersonen ihren Koitus und die Stimulation bis zum Orgasmus unter Laborbedingungen durchführen. So wurden primär die sexuellen Reaktionen von Menschen erfasst, die ein außergewöhnlich hohes sexuelles Interesse und eine besonders niedrige moralische Hemmschwelle hatten. Es entstand eine durchschnittliche Reaktionskurve, die nach heutigen Untersuchungsstandards eher für "sexuelle Hochleistungssportler" als für die Durchschnittsbevölkerung repräsentativ war. Masters und Johnson gingen vom ständigen Vorhandensein eines sexuellen Triebes aus, der lediglich einer effektiven Stimulation bedürfe um einen Orgasmus zu produzieren. Diese Ansicht wird heute nicht mehr geteilt. Später warfen Sexualwissenschaftler Masters und Johnson vor, die Sexualität auf das Erreichen des Orgasmus reduziert zu haben.
Ende der 1970er und in den 1980ern publizierte Shere Hite drei Hite-Reports, vielzitierte Bestseller, die Auswertungen von Umfragen über das Sexualverhalten von Frauen und Männern beinhalteten. Auch nachher lieferte Shere Hite wertvolle Forschungsergebnisse und Denkansätze zur menschlichen Sexualität und zum „Mysterium Orgasmus“.
Neueste Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts
In New Scientist vom 11. Juni 2005 wurde eine Studie an insgesamt knapp 1400 eineiigen und zweieiigen weiblichen Zwillingspaaren vorgestellt. Die Frauen im Alter von 19 bis 83 Jahren wurden u. a. befragt, ob sie beim Masturbieren und beim Geschlechtsverkehr zum Orgasmus kommen.
Nur 14 Prozent der Befragten gaben an, beim Geschlechtsverkehr immer, 16 Prozent, dabei nie zum Orgasmus zu kommen; 32 Prozent sagten, dass sie auf diese Weise nicht häufiger als jedes vierte Mal einen Orgasmus erlebten. Beim Masturbieren kommen der Studie zufolge 34 Prozent der befragten Frauen immer zum Orgasmus, 14 Prozent nie.
Wegen des Studienansatzes mit ein- und zweieiigen Zwillingen und den festgestellten Parallelen schlussfolgern die Forscher um Tim Spector, St. Thomas' Hospital, London dass die Erbanlagen einen erheblichen Einfluss auf die Orgasmusfähigkeit von Frauen haben. Dafür spreche besonders, dass beim Masturbieren zwar der „externe Faktor“ – ein Mann oder eine andere Frau – entfalle, gleichwohl aber eine deutliche Korrelation zwischen sexuellem Erleben und verwandtschaftlicher Nähe nachweisbar sei. Die Forscher wiesen darauf hin, dass die verbreitete Erwartungshaltung und die damit verbundene Definition von „Normalität“, dass Frauen einen Orgasmus haben müssen, nicht haltbar sei; man könne nicht jede fünfte Frau als „abnorm“ bezeichnen.
Die Orgasmus-Potenz
Wie häufig und durch welche Stimulationen ein Mensch Orgasmen erleben kann, sagt wenig über seine sexuelle Genussfähigkeit aus. Sie hängt vielmehr von der Tiefe seiner Hingabe, seiner Fähigkeit zur Überwindung der Selbstkontrolle und seinem Selbstwertgefühl ab.
Geschlechtsspezifische Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Die Orgasmusfähigkeit von Frauen nimmt mit zunehmendem Alter und zunehmender sexueller Erfahrung zu, u. a. weil Frauen mit der Zeit mehr und mehr lernen, durch welche Stimulationen sie am besten zum Orgasmus kommen, wie sie Selbstbewusstsein gewinnen und ihre sexuellen Wünsche besser vertreten können. Auch tritt die weibliche Vorsteherdrüse (Prostata feminina oder Gräfenberg-Zone, kurz G-Punkt) mit zunehmendem Alter und mit zunehmender Reizung mehr und mehr aus dem umliegenden Vaginal-Gewebe hervor, was bei der vaginalen Stimulation das sexuelle Lustempfinden steigern und manchen Frauen sogar einen vaginalen Orgasmus bescheren kann. Besonders nach der ersten (Vaginal-)Geburt bestätigen viele Frauen einen größeren sexuellen Genuss.
Ähnlich lernen Männer nach und nach, wie sie ihren Orgasmus und die Ejakulation besser kontrollieren. Hierbei entwickeln sie mit zunehmender Erfahrung vor allem die Fähigkeit, den Orgasmus hinauszuzögern, was einen größeren sexuellen Genuss ermöglicht.
Die meisten Männer können beim Vaginalverkehr einen Orgasmus erleben, sie brauchen aber normalerweise eine längere Erholungsphase als Frauen, um die sexuelle Spannung für einen weiteren Orgasmus erneut aufzubauen (vergl. sexueller Reaktionszyklus), während manche Frauen sogar zu multiplen Orgasmen fähig sind. Durch ein gezieltes Training des PC-Muskels gelingt es jedoch auch einigen Männern, die Fähigkeit zu entwickeln, mehrere Orgasmen hintereinander zu erleben - allerdings mit kurzen Erholungspausen dazwischen, die von Höhepunkt zu Höhepunkt länger werden. Die Menge des Ejakulats nimmt dabei von Mal zu Mal ab, weil die Hoden eine gewisse Zeit brauchen, um erneut Samenfäden und Samenflüssigkeit zu produzieren. Ähnlich wie beim weiblichen G-Punkt können manche Männer durch die (rektale) Massage der Prostata einen Orgasmus erleben, der sich in der Art des Erlebens von einem Orgasmus, der durch die Reizung des Penis hervorgerufen wird, unterscheidet. Dieser Effekt wird in der Literatur mit dem vaginalen Orgasmus verglichen und kann bei den betreffenden Männern meist erst im fortgeschrittenen Lebensalter erzielt werden.
Methoden, den Orgasmus bewusst zu steuern
Das ungezwungene Liebesspiel und das bewusste Hinauszögern des Orgasmus durch wiederholtes Unterbrechen der Stimulation bei fortgeschrittener Erregung bewirken oft einen größeren sexuellen Genuss und intensivere Höhepunkte als die leistungsorientierte Orgasmusjagd (vergl. Kapitel Die Orgasmuslüge). Diese Erkenntnis begründet die Sexualtechniken des buddhistischen Tantras, wobei sich der Orgasmus hier nicht in einer explosiven Entladung der sexuellen Energien äußert, sondern mit bestimmten Atemtechniken in andere Energieformen transformiert wird, die sich in einem ganzkörperlichen und lang anhaltenden Zustand hoher Ekstase äußern. Im Buddhismus steht jedoch nicht die Maximierung der eigenen Erlebnistiefe im Mittelpunkt, sie ist lediglich ein Nebenprodukt der spirituellen Handlung. Das Ziel ist nach traditioneller Auffassung vielmehr, eine Nähe zu den Göttern, insbesondere der Doppelgottheit Shiva/Shakti herzustellen und durch das orgastische Erleben einer Auflösung der Ichgrenzen, selbst zu dieser zu werden. Die Bereitschaft zur Selbstaufgabe begünstigt hierbei vermutlich eine erhöhte Erlebnistiefe.
Der Orgasmus in Gesellschaft und Kultur
Die Orgasmus-Lüge
Männer und Frauen fühlen sich häufig zum Orgasmus verpflichtet. Diese oft unbewusste und leistungsorientierte Haltung ist jedoch dem Erleben eines Orgasmus abträglich und stört die natürliche Neugier, Kreativität und Freude, die dem Liebesspiel innewohnt, erheblich. Wegen der hohen Priorität, die auch heute noch dem Vaginalverkehr und dem Orgasmus als ultimes Ziel des sexuellen Aktes beigemessen wird, fühlen sich Frauen und Männer, die noch nie einen koitalen Orgasmus erlebt haben, oft als sexuell minderwertig. Manche spielen deshalb ihrem Partner einen Orgasmus vor (siehe auch Orgasmuslüge) – mitunter auch, um das Selbstbewusstsein des Partners zu stärken und ihn nicht als Versager dastehen zu lassen, als Grund wird vermutet, daß die Furcht um den Verlust einer (als längerfristig angelegten) Partnerbeziehung, durch das Verlassenwerden eines sexuell frustrierten Partners für manche schwerer wiegt, als der des (kurzfristig) verlorenen sexuellen Genusses. Andere fühlen sich durch leistungsbetonte und angestrengte Bemühungen des Partners unter Druck gesetzt und täuschen Orgasmen vor, um die Interaktion zu entspannen.
20 Prozent der deutschen Frauen und 41 Prozent der deutschen Männer haben nach einer Emnid-Umfrage im Auftrag der Frauenzeitschrift Marie Claire ihrem Partner noch nie einen Orgasmus vorgetäuscht. 54 Prozent der Interviewten fanden, dass Sex auch ohne Orgasmus befriedigend sein könne, jede zweite befragte Person meinte, dass der Orgasmus generell viel zu wichtig genommen werde. Für 28 Prozent der Frauen und 42 Prozent der Männer sei er das Schönste am Sex.
Der Orgasmus und Rollenklischees
Die Enttäuschung, beim Sex mit dem Partner keinen Orgasmus zu erreichen, scheint laut Umfragen bei Frauen geringer zu sein als bei Männern - das legt die Vermutung nahe, dass Frauen stärker als Männer zwischen Orgasmus und sexueller Befriedigung unterscheiden. Zahlreiche Umfragen und Untersuchungen bestätigen, dass viele Frauen die intensivsten Orgasmen bei der Masturbation erleben, aber trotzdem mit ihrem Sexualleben in der Partnerschaft zufrieden sind. Hierbei stützen sich die zugrundeliegenden Untersuchungen vorrangig auf die Aussagen von Heterosexuellen.
Möglicherweise sind die Gründe für die als selbstverständlich hingenommene Orgasmuslosigkeit der Frau in der veralteten Rollenverteilung der Geschlechter und in tradierten sexuellen Vorstellungen zu finden, die sich u. a. im Ausdruck Eheliche Pflicht widerspiegeln, der lange gebräuchlich war und sogar als Begründung für die ungleiche juristische Bewertung ehelicher und außerehelicher Vergewaltigungen diente. Lange sollten Frauen keinen Spaß an der körperlichen Liebe haben, stattdessen wurde von ihnen Fügsamkeit erwartet, was unterbewusst bis heute nachwirkt (vergl. Abschnitt weiter unten). Umfragen bei homosexuellen Frauen haben ergeben, dass sie häufiger Orgasmen erlebten, und dass der Orgasmus selbstverständlicher zum Liebesspiel gehört, als bei Frauen mit heterosexuellen Partnern. Diese Ergebnisse unterstützen die These der fortbestehenden unbewussten Rollenkonformität.
Seit Mitte des 20.Jahrhunderts wurde das Recht der Frau auf ihre eigene Sexualität von feministischen Bewegungen immer stärker vertreten und eingefordert. In den 1950er Jahren erfasste und erforschte der weltberühmte Zoologe und Sexualforscher Kinsey in seinem Buch Das geheime Leben der Frauen das Thema und machte es zum Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung. Bis dahin war der weibliche Orgasmus ein Mythos, wenn nicht sogar ein Tabu. In den 1970er und 1980er Jahren machte die Sexualforscherin und Feministin Shere Hite mit den Hite-Reports Furore, in denen sie weibliche und männliche Stereotypen im sexuellen Rollenverhalten entlarvte. Mit ihren Veröffentlichungen gelang es ihr insbesondere, ein größeres allgemeines Interesse für die Sexualität der Frau und den weiblichen Orgasmus, und somit auch einen größeren gesellschaftlichen Respekt vor der Frau zu wecken.
Literatur
zum Kapitel Partnerschafts-selektive Funktionen des Orgasmus
- Magazin Der Spiegel, Heft 41/10.10.05, Titel: Wozu Sex?
Neuere Untersuchungen zu einem großen Rätsel der Evolutionsbiologie; u. a. interessante Fakten zum Thema „sexuelle Stimulation als Selektionskriterium“.
zum Kapitel Die Orgasmuspotenz:
- Margo Anand: Tantra oder Die Kunst der sexuellen Ekstase, Verlag Goldmann, ISBN 3442138477. (Zwar wird hier der Begriff Tantra auf den Bereich der Sexualität reduziert, jedoch regt das Werk an zu neuen Betrachtungsweisen der Themen Sex und Orgasmus und veranschaulicht allgemein verständlich die tantrischen Techniken.)
- Susan Crain Bakos: Sex-Geheimnisse für den ultimativen Lust-Trip, Verlag Golmann, ISBN 3442165385. (Die Autorin hat weltweit recherchiert und trotz des reißerischen Titels und des expandierenden Schreibstils viel Wissenswertes zum Thema Sex, Sexualtechniken und zum Thema Orgasmus zusammengetragen.)
zum Kapitel Der Orgasmus und Rollenklischees:
- Rachel P. Maines: The Technology of Orgasm: Hysteria, the Vibrator, and Women's Sexual Satisfaction, Johns Hopkins University Press, ISBN 0801859417.
- Shere Hite, Philippe Barraud: Vom Stolz, eine Frau zu sein, 2003, Moderne Verlagsges. Mvg, ISBN 3478730929.
Weblinks
- netdoktor.at: Der Orgasmus der Frau
- Orgasmen: Hat sie? (the-clitoris.com)
- www.wissenschaft.de: Vererbte Höhepunkte Weibliche Orgasmusfähigkeit hängt auch von den Genen ab
- www.wissenschaft.de: Gefühllose Höhepunkte Während des Geschlechtsakts werden bei Frauen die Gefühlszentren und andere Bereiche im Gehirn deaktiviert
- Beschreibung eines der ersten Orgasmusexperimente (1928)
- Artikel über Sex, Orgasmus und Wirkung auf den Körper
- Immunologische Aspekte