Mobilität

Das fahrende Wohnzimmer

Von Roland Wildberg
Veröffentlicht am 21.10.2022Lesedauer: 5 Minuten
WELT Future Pioneers Summit Berlin 06.10.2022
Über Status quo und Zukunft der Autoindustrie ging es im Panel "Future Mobility": (von links): Moderatorin Solveig Rathenow, Sahin Albayrak, Jörg Burzer und Osman DumbuyaQuelle: Philip Nürnberger

Die deutsche Autoindustrie steht vor einem herausfordernden Prozess der Transformation: Elektromobilität, Digitalisierung sowie die Umstellung der Produktion auf Nachhaltigkeit müssen gleichzeitig realisiert werden.

Ukraine-Krieg, Energiekrise, Klimawandel – Pessimisten haben zurzeit Oberwasser. Da verwundert es nicht, wenn in der Gesprächsrunde „Future Mobility“ die Zuschauer eher ungute Zukunftserwartungen hegten. Auf die Frage „Wie ist die deutsche Autoindustrie aufgestellt für die Zukunft?“ antworteten 35 Prozent mit „schlecht“, immerhin 65 Prozent hielten die Bemühungen von Volkswagen, Mercedes und Co., auch in zehn Jahren noch auf dem globalen Automarkt mitzuspielen, zumindest für verbesserungsfähig.

Tatsächlich sind die aktuellen Entwicklungen nicht immer geeignet, Auto-Patrioten Mut zu machen: Erstmals führte dieser Tage ein Tesla die monatliche Neuwagen-Zulassungsstatistik an: Das Model Y, das seit dem Frühjahr in Deutschland produziert wird, war im September noch vor dem VW Golf und anderen langjährigen Bestsellern der meistverkaufte Neuwagen im Land.

Bedenkt man, dass Tesla vor 16 Jahren auf den Markt kam und bis 2020 ununterbrochen Verluste schrieb, nötigt dieses Ergebnis mindestens Respekt ab – und lässt Befürchtungen wachsen, dass in wenigen Jahren 50 Prozent der in Deutschland gefahrenen Wagen von Tesla sind. Die anderen 50 Prozent wären dann chinesische Erzeugnisse: Eine weitere Schlagzeile erschütterte kürzlich die Branche, als der weltweit operierende Autovermieter Sixt 100.000 Elektroautos bei BYD in China bestellte – und eben nicht bei VW oder BMW.

Oder der Elektroauto-Pionier Nio, der sich dieser Tage auf dem deutschen Markt präsentierte: Anders als die heimischen Hersteller, die auf den Schnellladestandard CCS setzen, überrascht Nio mit einem Netz von Batterietausch-Stationen. Das Wechseln der Akkus dauert dort fünf Minuten, ist also mindestens so schnell wie ein klassischer Tankvorgang. In China hat Nio bereits 1100 solche Stationen in Betrieb.

Ein eigener Windpark entsteht

Müssen wir uns also darauf einstellen, dass die deutsche Autoindustrie in zehn Jahren bedeutungslos geworden ist? Jörg Burzer glaubt das naturgemäß nicht: Der Vorstand für Produktion und Supply Chain Management von Mercedes stellte auf dem „Future Pioneers Summit“ die mittelfristige Zukunftsstrategie seines Unternehmens vor. Dabei geht es vordringlich, wen wundert es, um Energieeinsparung: 50 Prozent Gas weniger wird Mercedes in Zukunft verbrauchen. Ein eigener Windpark entsteht. 

Ein Tausend-Dächer-Programm innerhalb des Konzerns bringt Solarzellen auf jede freie Dachfläche. Und die so gewonnene Energie speichert Mercedes in gebrauchten E-Auto-Akkus, die aus den neuen Modellen zurückgenommen werden und im Werk ein zweites Leben führen. Es geht um drei parallele Entwicklungen, die eng verzahnt sind: Hochfahren der neuen Elektroauto-Modellproduktion, Digitalisierung der Produktionsprozesse und Nachhaltigkeit – also CO2-Neutralität der gesamten Fertigung.

smart transportation with highway
Bei der deutschen Automobilindustrie geht es um weit mehr als gute Autos: Es geht auch um Elektromobilität, Digitalisierung und NachhaltigkeitQuelle: Getty Images

Ein ehrgeiziges Vorhaben, das gerade im Gange ist: In Sindelfingen wird die S-Klasse mit Verbrennungsmotor auf derselben Linie wie das rein elektrische Pendant, der EQS, produziert. Es entstehen eigene Batteriewerke sowie der Digital Campus in Berlin, wo Training und Tests von digitalen Anwendungen innerhalb der Produktion stattfinden. „Das tun wir, und wir tun es jeden Tag“, fasste Burzer zusammen. 

Dass die deutschen Autohersteller insbesondere in der Digitalisierung im Rückstand sind, glaubt Osman Dumbuya, Gründer des Software-Start-ups Incari. Das Unternehmen hat sich auf digitale Anwendungen für die Autoproduktion spezialisiert. „Die deutsche Industrie ist da ein bisschen hintendran, weil sie die Komplexität der Software-Entwicklung unterschätzt hat“, so Dumbuya. Man habe geglaubt, in ein paar Jahren auf dem Stand zu sein, für den Google oder Apple Jahrzehnte gebraucht hätten.

Das Auto als digitales Produkt

Dieser Vergleich kommt nicht von ungefähr: Dumbuya glaubt, dass das Auto zukünftig immer mehr als digitales Produkt verkauft wird und dass die Kunden zunehmend Erwartungen daran stellen, die mit denen an ein neues iPhone vergleichbar sind. 

„Das Auto wird immer mehr zum fahrenden Wohnzimmer, und daran müssen sich die Konzepte anpassen.“ Incari hat Aufträge vornehmlich von asiatischen Herstellern. „Es wäre schön, wenn auch die heimischen Anbieter darauf kämen, dass so etwas nicht nur im Silicon Valley zu haben ist“, sagt der Incari-Gründer. Die Erkenntnis, dass digitale Services im Auto wichtiger werden als das Auto selbst, breite sich schnell aus. 

„Das Monetarisierungsmodell liegt bei demjenigen, der diese Services anbietet.“ Um also mit Apps im Auto Geld zu verdienen, muss man die Oberhoheit über die Software behalten. „Daher ist es so wichtig, eigene IP zu haben, um in das Geschäft mit dem Endkunden zu treten“, so Dumbuya. Mehr Software made in Germany also. „Dafür setze ich mich ein, und hoffentlich kriegen wir da die Kurve.“ 

Noch einen Schritt weiter geht Sahin Albayrak, Professor für Information an der TU Berlin: „Die größte Herausforderung der Industrie wird die Integration von Soft- und Hardware im Auto.“ Das Fahrzeug der Zukunft werde ein Mobilitätsgerät, das den Autofahrer in vielen Bereichen unterstützt. Dafür benötige man Künstliche Intelligenz, die in einem eigenen Ökosystem in Deutschland entwickelt und trainiert werden müsse. 

Die Stars kochen auch mit Wasser

Autonomes Fahren wird allerdings je nach Markt unterschiedlich gewichtet. „Die regulatorischen Bedingungen sind überall anders“, sagte Burzer. Für die neue S-Klasse ist inzwischen der „Assistent Drive Pilot“ erhältlich, der bis 60 km/h autonomes Fahren erlaubt, sofern der Fahrer jederzeit das Steuer wieder übernehmen kann. 

Und dass auch die Stars der Branche nur mit Wasser kochen, zeigt Tesla: Immer wieder ereignen sich schwere Unfälle, weil Nutzer die Funktion „Autopilot“ mit angepriesener „Self-Driving Capability“ überschätzen und dem Fahrzeug Kompetenzen übergeben, die es de facto nicht ausfüllen kann. Bis der Trend zur Realität wird und Autos wirklich autonom fahren, wird sicher noch viel Zeit vergehen.

Wie schnell kann die Branche überhaupt auf neue Trends reagieren? „Wir haben aus den vergangenen zwei Jahren mit all den Herausforderungen viel gelernt, sind viel flexibler geworden“, sagte Jörg Burzer. Natürlich dauere es, vom ersten Prototyp über Tests bis zum fertigen Produkt zu kommen. Aber Änderungen würden quasi sofort umgesetzt: Alle 14 Tage gibt es Software-Updates als festen Zyklus.

„Die deutsche Industrie hat sich in dieser Zeit sehr stark weiterentwickelt, zum Beispiel auch die Kollegen aus München“, fasste der Manager zusammen. Die Unabhängigkeit von Software aus den USA und China ist dem Unternehmen inzwischen offenbar ein Anliegen: Mercedes arbeitet am eigenen Betriebssystem MBOS für das Produkt, es wird in Sindelfingen entwickelt.


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